TAGE OHNE ENDE

„Ich denke an die TAGE OHNE ENDE in meinem Leben. Heute ist das ganz anders. Ich frage mich, was für Worte wir in jener Nacht so sorglos sagten, was für heftigen Unsinn wir von uns gaben, was für betrunkene Schreie wir ausstießen, was für Freude dem ganzen innewohnte, und ich denke, dass John Cole noch jung war und so ansehnlich wie nur einer, der je auf Erden wandelte.“

Ist das nicht poetisch? Ist das nicht eine unerhörte Offenheit? Ist das nicht die schönste Liebeserklärung ever? Sie ist von Thomas McNulty. Thomas und John. John und Thomas.

Gut, es ist aus dem Kontext gezogen und mag sich jetzt hier nicht gleich erschließen. Ein guter Grund, Tage ohne Ende von Sebastian Barry (erfolgreicher irischer Schriftsteller, 1955, Dublin; Roman Steidl; aus dem Englischen von Hans Christian Oeser) zu lesen.

Es ist ein Western, von einem Iren erzählt – nicht nur der Autor ist Ire auch der Erzähler, Thomas. Thomas kommt als Kind nach Amerika, er flieht vor dem Hunger in Irland, irgendwann um 1850. Seine Mutter und seine Schwester kommen um, sterben am Hunger. Sein Vater auch. Er schleicht sich auf eins der Schiffe, die nach Amerika fahren. Die Geschichte seiner Überfahrt ist nicht schön, das will man nicht erlebt haben, ich konnte es kaum lesen. Thomas McNulty ist noch klein, ungefähr 13, er schlägt sich irgendwie durch.

Überhaupt will man das Leben von Thomas nur zu Teilen er“lebt“ haben, da ist viel Grausames, viel Entwürdigendes, Ungreifbares, mir wurde manchmal schlecht, ich hatte oft einen Kloß im Hals. Den manchmal aber auch vor Glück über die Liebe zwischen John Cole und Thomas McNulty – ich mag die Namen auch so gerne … wer weiterliest, muss sie aushalten. Wie auch mein Hingerissensein, das mich dauernd überkommt.

Noch klein, begegnet Thomas John unter einer Hecke im gottverdammten Missouri. Beide suchen Schutz vor nem Wolkenbruch. „Da rechnest Du eher mit ner Ente, die Schutz sucht, als mit nem Menschen.“ Beide sind dreckig, beide stinken, beide sind abgewetzt und abgemagert. „Als ich John Cole begegnete war ich nichts als ne menschliche Laus; selbst böse Menschen gingen mir aus dem Weg, und die guten hatten keine Verwendung für mich. Das war mein Ausgangspunkt. Gibt Ihnen ne Vorstellung von dem Triumph, den die Begegnung mit John Cole für mich bedeutete. Zum ersten Mal fühlte ich mich wieder wie ein Mensch.“

Sie kamen ins Gespräch unter dieser Hecke und beschlossen gemeinsam weiterzuziehen. Denn alleine herumzuirren, waren beide leid.

Mit dem Schild Saubere Jungs gesucht am nächsten Saloon beginnt ihre Tanz-Zeit. Beide sind hübsche Jungs und sie sind in einer Gegend, in der es wegen der Goldschürferei in erster Linie Männer gibt. Männer, die den ganzen Tag nach Gold schürfen, das große Glück suchen und am Ende des Tages jeden Fitzel Gold in den Saloon tragen, um ihn zu feiern oder um zu vergessen, dass es nur ein Fitzel war oder ihn sich größer und schwerer zu trinken als er war oder einfach um sich die Hoffnung anzusaufen, dass es morgen mehr sein würde. So oder so, sie suchen Ablenkung. Und John Cole und Thomas McNulty geben sie ihnen. Alles ganz sauber: „Nicht küssen, nicht schmusen, nicht fummeln oder knutschen. Nein, nur das hübscheste, manierlichste Tanzen.“ Richtig mit Tanzkarten, in die sich die Männer eintragen müssen, um Walzer und Foxtrott zu tanzen. Die gröbsten Grobiane wurden zu glattrasierten d´Artagnans.

Und so tanzen sie, jeden Abend, in edlen Frauenkleidern, Mieder und Unterwäsche aus St. Louis. Nur die Schuhe hatte Mr. Titus Noone vergessen. Macht nichts, denn so sauber wie nach dem Bad in der Badewanne im Stall, waren die Zwei seit Jahren nicht. Joanna und Thomasina. Sie tanzen, wirbeln und kokettieren – bis sie zu alt sind, bis ihnen das mädchenhaft Zierliche doch abhanden kommt, soweit es den Jungs abhanden kommen kann. Aber bis dahin ist es eine glückliche Zeit, Thomas liebt es, sich in die Kleider zu hüllen, er fühlt sich anmutig, stark, lebendig und ist befreit von allen Sorgen. Das tut er später, wenn sie aus der Armee raus sind, wieder. Sich in Kleidern am glücklichsten fühlen. Mit John Cole an seiner Seite.

Bis es soweit ist, passieren aber noch sehr, sehr viele nicht sehr schöne Dinge. Grausame Dinge. Sie melden sich bei der Armee und das in der Zeit, in der sich die einen das Land der anderen aneignen, brutale Zeit. Nur Kälte, nur Hitze, Dreck und Krankheit, Flut und Feuer, Gemetzel, Massaker, Frauen und Kinder töten, Männer töten, Frauen und Kinder als Geiseln nehmen, Rache üben, Menschen in Blutrausch – Menschen, die bei alldem versuchen, der Gerechtigkeit irgendwie den höchsten Stellenwert zuzurechnen und die Achtung vor dem Leben zu bewahren und die eigene Menschlichkeit in Liebe auszudrücken. Man rauscht durch die atemlose Beschreibung der Jahre, die Thomas McNulty und John Cole auf Kriegsfuß mit den Indianern, mit Häuptling Caught-His-Horse-First – und irgendwie auch mit ihren Soldatenkameraden Starling Carlton, Lige Magan, ihrem so sehr gerechten und um Redlichkeit bemühten Major Neale stehen. Thomas und John bewahren sich ihre Zweisamkeit, stehen alles irgendwie durch, schaffen es, nicht durchzudrehen. Sie bewahren sich ihre Würde und geben sie weiter an ihre Kameraden. Sie gehen das Bündnis ein. Ohne sich zu verraten.

Die erste Wendung kommt über Major Neale. Er schickt Thomas und John weg. Sie sollten ihre Dienstzeit nicht nochmal verlängern. John solle endlich irgendwie irgendwo anders gesund werden. „Er sagte wir wären vorzügliche Dragoner und gehörten in die Armee. Aber er könne einen Mann, der immer wieder krank ist, nicht dauernd durchfüttern, das widerspräche den Vorschriften und dem gesunden Menschenverstand.“ John Cole litt wohl unter den hygienisch unvorteilhaften Bedingungen der Forts, denn einmal weg von der Armee, ging es ihm gut. Der Major war klug und ließ beide gemeinsam ziehen. Mit ihnen zog Winona. Eine Neunjährige, Indianerin aus Caught-His-Horse-First´s zerstreuten und gemeuchelten Stamm, die sich unter der Obhut der Majorsfrau Sprache und Wesen der Weißen angeeignet hatte.

Ohne Armee und ohne Waffen kehren Thomas McNulty, John Cole – nun mit Tochter Winona Cole – zurück aufs Parkett. Thomas schlüpft endlich wieder in seine geliebten Kleider, John Cole mimt den Galan und Winonas Lachen (wie ein Bächlein auf ner Sommerwiese) und Gesang begleitet die über alle Erwartungen hinaus erfolgreiche Darbietung. Thomas als Schönheit – das Publikum ahnt, und weiß auch von der Vorankündigung an der Saloontür, dass etwas nicht mit wirklich rechten Dingen zugeht, ist ihm, ihr aber erlegen und schert sich letztlich nicht um die inneren Zweifel. Sie sind hingerissen. Alle. Thomas, während er das erst Mal die Bühne betritt: “Ich denke, die begreifen nicht, was sie da sehen. Ich denke, es stimmt, dass sie eine wunderschöne Frau sehen. Eine Frau mit weichen Brüsten, wie auf einem Bildnis von derartigen Damen. Jetzt durchfährt mich eine Erregung, zu der einem sonst nur Opium verhilft. Ich könnt eins von diesen Rampenlichtern sein, mit einem brennenden Docht als Herz“ (Also verdammt ist das poetisch!) … „ …und wir hören, wie die Männer den Atem anhalten, wie eine Flut, die von einem Kiesstrand zurückweicht.“ … „Aber ich vermute jeder von ihnen würde mich gern berühren, und jetzt ist John Cole Botschafter ihrer Küsse.“ … „Jeder der Männer, ob jung oder alt, will, dass John Cole mein Gesicht berührt, meine schmalen Schultern umfasst. Seinen Mund gegen meine Lippen presst. Der hübsche John Cole. Mein Galan. Unsere Liebe vor aller Augen.“

Das ist eine gute Zeit, eine freie und unversehrte Zeit.

Doch der Krieg kommt wieder und Thomas und John werden von Major Neale, jetzt Colonel Neale zurück ins Regiment beordert. Und sie gehen. Ohne Winona. Das Indianermädchen bleibt in der Obhut der verbliebenen Theatercrew, beim alten Mr. McSweny.

Thomas und John treffen auf ihre alten Kameraden. Es ist ein bisschen, wie nach Hause kommen. Denn die gemeinsame Zeit hat ihre Spuren und ihre Bande, wenn auch zwiegespaltene, hinterlassen. Wieder viele Grausamkeiten, Massaker und Gemetzel. Schlimmer als zuvor, denn jetzt gibt es Kanonen, die schwarze Löcher in den Boden, in die Dörfer und in die Reihen der Rebellen brennen (Nord- gegen Südstaaten, Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Die „guten” Nordstaatler (Blauröcke) und die „bösen” Südstaatler (Grauröcke)). Und wieder und noch mehr Kälte, Hitze, Dreck, Krankheit. Vor allem Krankheit: „Wir haben herrliche Beispiele der Wassersucht, des Skorbuts und der Blattern. Wir haben Brust-, Knochen-, Arsch-, Fuß-, Augen-, Gesichtskrankheiten. Riesige bösartige rote Hautausschläge verunstalten Hunderte von Gesichtern. Körper sind von Ringelflechte, Läusebissen und einer Million Wanzen befallen. Männer sind so krank, dass sie am Sterben sterben.“ Thomas McNulty und John Cole sterben nicht. Aber sie sind nahe dran. Sie sind so abgemagert, dass sie nach Hause zu Winona gebracht werden. Sie werden in ihr Bett getragen. Hier liegen sie und Winona pflegt sie wochenlang. Bis sie ihre Glieder wieder regen können, bis sie wieder eigenständig essen können. „Wir sind Tote, die ins Leben zurückwollen. … Sind zerbrechlich wie Eier.“

Sie kommen wieder zu Kräften. Sie überleben. Und dann heiraten Thomas McNulty und John Cole, also Thomasina und John. Am 7. Dezember 1866.

Der Krieg hat alles zerstört. Alle hungern und versuchen durchzukommen. Thomas, John und Winona machen sich auf zu ihrem alten Kameraden Lige Magan, der auf der Farm seines verstorbenen Vaters hockt und mit dem Tabakanbau überfordert ist. Nicht ohne unheimliche Begegnungen reiten sie nach Süden. Thomas die meiste Zeit in seinem Lieblingsoutfit. Im Kleid. Als Frau von John Cole. Und sie kommen auch an. Und wieder beginnt eine gute Zeit. Sie arbeiten die Jahreszeiten durch, pflanzen ernten, verkaufen Tabak, leben und lieben als große, bunte Familie auf der Farm.

Noch entlässt mich Sebastian Barry aber nicht in das Happy End von Thomas McNulty und John Cole. Er schickt Starling Carlton auf die Farm, um Winona zu holen. Starling ist einer der Kameraden, die mit Thomas und John unter Major Neale gedient haben.

Und noch ein alter Bekannter wird wieder Teil der Geschichte: Caught-His-Horse-First. Der hat noch eine Rechnung mit dem Major offen. Caught-His-Horse-First kidnappt Major Neales Frau und seine beiden Töchter. Der Preis? Seine Nichte. Die Nichte ist Winona. Wieder eine Reise: Thomas und Winona reiten zu Major Neale.

Es endet furchtbar. Teile enden furchtbar. Aber nicht alles endet furchtbar.

Lest das Buch. Es ist eine Bereicherung. Es macht, dass es wummert und brennt in der Brust.

„Als Frau bin ich entspannt, als Mann verkrampft. Als Mann sind alle meine Glieder gebrochen, als Frau geheilt. Ich lege mich mit der Seele einer Frau zu Bett und wache auch mit ihr auf. Ich kann mir keinen Zeitpunkt vorstellen, wo das nicht mehr zutreffen wird. Vielleicht bin ich als Mann zur Welt gekommen und habe mich in eine Frau verwandelt. Vielleicht war der Junge, dem John Cole begegnete, schon damals ein Mädchen.“

AUTOR:

Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, gehört zu den „besten britischen und irischen Autoren der Gegenwart“ (Times Literary Supplement). Er schreibt Theaterstücke, Lyrik und Prosa. Bei Steidl erschienen bisher seine Romane Ein verborgenes Leben, ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award und auf der Shortlist für den Booker Preis, Mein fernes, fremdes Land, ausgezeichnet mit dem Walter Scott Prize for Historical Fiction, Ein langer, langer Weg, auf der Shortlist für den Booker Preis, und Gentleman auf Zeit. Sebastian Barry lebt in Wicklow, Irland.

ÜBERSETZER:

Hans-Christian Oeser, 1950 in Wiesbaden geborenlebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor.

Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Credit

Text: Henrike Heick