„Ein Lob auf die Nörgelei“

Text: Sandra Groll

Illustration: Oskar Nehry

 

Die graue Jahreszeit geht zu Ende und der Frühling steht vor der Tür. Grund, wieder positiv in die Zukunft zu schauen. Weniges ist deprimierender als Deutschland im Winter, das Wetter schlägt aufs Gemüt und spätestens ab November auch auf uns selbst und unsere Alltaginteraktionen zurück. Wir sind dann noch unausstehlicher als sonst. Auch dies mag einer der Gründe sein, warum internationale Fachkräfte eher einen Bogen um dieses miesepetrige Land mit absurder Grammatik und überbordender Bürokratie machen. Es braucht jede Menge Resilienz, um die Zeit zwischen Oktober und April zu überstehen.

 

„Mir egal, weil Ooooom“

 

Dabei könnte es hier eventuell doch auch im Winter ganz nett sein, wenn die Deutschen ein kleinwenig netter wären – zu sich selbst und zu den anderen. Allerdings gelingt es uns immer wieder, die soziale Kälte zu erzeugen, die wir dann gerne lautstark beklagen. Und das in Zeiten des Megatrends zur Achtsamkeit. Weniges ist von stärkerer Unachtsamkeit geprägt als das deutsche Alltagsleben. Noch die achtsamsten Achtsamskeitsroutinen scheinen wirkungslos zu verpuffen, beziehungsweise scheinen sie die Miesepetrigkeit im Alltag nur noch zu steigern. Zwar dürften mittlerweile täglich hunderttausende Dankbarkeitstagebücher befüllt, Yogaroutinen oder Meditationsübungen gepflegt und endlose Listen der positiven Dinge geführt werden, mit denen wir uns versuchen, in eine dankbare Stimmung zu versetzen. Am Ende wirken all diese Aktivitäten wohl eher wie ein privates Bootcamp, um sich die letzten Skrupel und Sensibilitäten abzutrainieren.[1] Mir egal, weil Ooooom. Zwar wird nicht nur in Deutschland fleißig dem Megatrend Achtsamkeit gefrönt, allerdings scheinen hier die negativen Sideeffekte von Meditation und Co. auf die günstigsten Rahmenbedingungen zu treffen: Kulturell bedingt lieben wir Nörgelei, Rechthaberei und Neid. Kurz gesagt: die Negativitätsspirale. Und da wir diese permanent reproduzieren, schaffen wir uns Alltagsbedingungen, die uns dann dazu bringen, Maßnahmen zu ergreifen, mit dem so erzeugten Zusatzstress umzugehen und da kommt Mindfulness gerade recht, hilft sie uns doch dabei, uns zu desensibilisieren.

Man könnte auch aus der Negativitätsspirale aussteigen, müsste dann allerdings ein Substitut für ihre soziale Funktion „Triggerpunkt für Nörgelei erzeugen“ finden und hier liegt der Hase im Pfeffer: Nörgelei ist der Kitt der deutschen Gesellschaft und deswegen bedarf es auch schlechter Nachrichten.  Erst wenn eine Information in der Lage ist, unsere Negativitätserwartung zu bestätigen und negative emotionale Feedbackschleifen in Gang zu bringen, dringt sie so richtig zu uns durch und schafft einen Kristallisationspunkt für Unmut, den wir dann artikulieren können und für den wir uns von den Anderen Zustimmung erhoffen.

 

„Kulturell erfüllt die Nörgelei aber noch weitere Funktionen, sie stiftet eine prekäre Form von Zustimmung und sie entlastet.“

 

Auch dieser Text ist nichts anderes als eine Nörgelei. Er ist allerdings eine Nörgelei zweiter Ordnung, also eine Nörgelei an der Nörgelei. Und wie immer in solchen Beobachtungen lässt sich dann die Einheit der Differenz und die soziale Funktion der Unterscheidung beobachten.

Auffällig ist dabei, dass die Nörgelei eigentlich die kleine vorpubertäre Schwester der Kritik ist, denn sie dringt nicht auf Handlung, sondern fordert passiv-aggressiv und verdeckt Wunscherfüllung ein, ohne selbst tätig zu werden zu müssen. Kulturell erfüllt die Nörgelei aber noch weitere Funktionen, sie stiftet eine prekäre Form von Zustimmung und sie entlastet. In den deutschen Alltag scheint die Nörgelei so tief eingeschrieben, dass man sie zu einer Kenngröße machen könnte, an dem sich die Integrationsleistung von Migrantinnen ablesen ließe, da sie vielmehr ein wichtiges Element in sozialen Interaktionen bildet.

Eine Erkenntnis, die mich im vergangenen Dezember ereilte: Nach sechs Wochen Teaching-Aufenthalt an zwei chinesischen Universitäten im winterlichen Frankfurt gelandet, war mein erster Kontakt ein freundlich-nöliger Taxifahrer, dessen ausgiebige Maulerei über die aktuelle Wetterlage, die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und die aktuellen Baustellen im Großraum Frankfurt, mich sofort in eine schöne vorweihnachtliche Ach-schön-wieder-daheim-zu-sein-Stimmung versetzten. Auch seine mehr oder weniger subtil deprimierende Einordnung und sein maulendes Fazit zu den politischen und ökonomischen Ereignissen der letzten Wochen, die ich verpasst hatte, sorgten für das wohlige Grundgefühl, dass daheim alles in bester negativer Ordnung ist. Allerdings fühlte ich mich auch ein wenig überfordert von der impliziten Aufforderung zu gemeinsamen Frustrationsbekundungen, denn irgendwie war mir die entsprechende Grundstimmung über die Zeit abhandengekommen.

Ich hatte den Fehler gemacht, mir für den Aufenthalt hinter der Great Chinese Firewall zwar eine Reihe von VPN-Diensten zu installieren und auch in die entsprechenden Vollversionen investiert, sie allerdings nur für Netflix und Co genutzt. Irrtümlicherweise ging ich davon aus, dass ein wenig Detox von den deutschen Polarisierungsunternehmen und Konfliktarenen[2] würde ganz guttun und zu einer optimistischeren Grundstimmung beitragen. Decoupling durch ein Einlassen auf den Filter der englischsprachigen Berichterstattung in chinesischen Staatsmedien, um so eine Art Retreat zu schaffen, also die Bedingungen vor Ort zu meinem Vorteil zu nutzen und mein negativitätsabhängiges deutsches Hirn ein wenig auf Entzug zu setzen. Zum Detox von polarisierten Debatten und negativen Informations-Overload nach China – Ich hielt dies anfänglich für eine völlig unterschätze Businessidee, zumal sich relativ schnell die ersten positiven Effekte zeigten: eine seltsame Entspannung und positive Grundstimmung, begleitet von dem Gefühl ganz im Hier und Jetzt zu sein, ohne latent zu urteilen und diesem Urteil maulend Ausdruck geben zu müssen. Die Abstinenz von potenziellen Nörgelei-Triggern schlug sich alsbald auch körperlich und kognitiv nieder, meine Haut erschien plötzlich fünf Jahre jünger, das Mindset grundüberholt und auch die Apple Watch verkündete am Morgen fröhlich das Erreichen meines Schlafziels. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt felsenfest geschworen, dass Nörgelei das Ursprungsübel aller Probleme ist, hatte dabei allerdings übersehen, dass die deutsche Nörgelei nun auch einmal eine soziale Funktion besitzt, für die es kein anderes Äquivalent gibt und die somit unverzichtbar ist.

 

„… in Sachen Triggerpunkte für Unmut ist und bleibt die Deutsche Bahn ein Innovationstreiber.“

 

So richtig bewusst wurde mir diese Erkenntnis dank der Deutschen Bahn, dem Nörgelei-Trigger schlechthin. Während die Fahrten mit den Hochgeschwindigkeitszügen in China kaum Anlass zu Maulerei bieten – schließlich sind sie sauber, schnell, pünktlich und werden auch während der Fahrt regelmäßig gereinigt – bietet jede einzelne ICE-Fahrt eine Multitude von Triggerpunkten: Spontaner Gleiswechsel (aber nur kurz vor der Einfahrt), fragwürdige Haltestellenplanung (warum muss man direkt nach Frankfurt in Hanau und kurz hinter Kassel in Göttingen halten?), der fehlende Wagon (wirkt nur, wenn man just in diesem eine Platzreservierung besitzt), die obligatorische Streckensperrung (Personen oder Kühe im Gleis), Toiletten (defekt), Boardbistro (geschlossen), Verbindung (ganz sicher wird der Anschlusszug in der 7-minütigen Umsteigezeit nicht erreicht), die Liste lässt sich verlängern.

Dieses Mängeldesign macht die Deutsche Bahn für uns über ihre Funktion als Verkehrsmittel hinaus so unverzichtbar. Sie gibt zuverlässig Grund zu Nörgeleien und passiv-aggressiv vorgetragenen Beschwerden, stiftet auf diese Weise kurzfristig Einigkeit unter Menschen, die verschiedener nicht sein könnten und ermöglicht Kommunikationen, die ansonsten eher unwahrscheinlich wären. Wenn der Zugchef, die obligatorischen Personen im Gleis, die Ausweichstrecke und die daraus resultierende Verspätung ankündigt, maulen hunderte Seelen im ICE gemeinsam auf, gründen sich Schicksalsgemeinschaften und erlebt man das erhabene Gefühl der kollektiven Einheit. Etwas, das in individualistischen Gesellschaften anders als in kollektivistischen nicht ohne weiteres der Fall ist.

Die Strategen der Deutschen Bahn sind sich dieser gesellschaftlichen Verantwortung spätestens seit den 1990er Jahren bewusst und arbeiten permanent an der innovativen Weiterentwicklung des Angebots. Ob nun die Sitze im ICE 4, die bereits in Hamburg-Harburg zuverlässig unbequem werden und uns in den Nörgelmodus versetzen, oder die Abschaffung des gedruckten Wagenstandanzeigers, die für allgemeine Verwirrung und Irritation beim Einstieg sorgt, in Sachen Triggerpunkte für Unmut ist und bleibt die Deutsche Bahn ein Innovationstreiber. Jüngstes Beispiel und Zeichen dafür, dass die Deutsche Bahn ihrer gesellschaftlichen Aufgabe auch im Zeitalter der Digitalisierung gerecht wird, ist der DB Navigator. Insbesondere das Feature „Wird ihr Anschluss noch erreicht?“ ist ein exzellentes Beispiel für einen Unmut-Centered-Design-Ansatz. Je nach Fahrtverlauf wird den Nutzerinnen in Echtzeit gleich mehrfach ein Angebot gemacht, laut aufzujammern und im gemeinsamen Nörgeln Sozialität zu erleben. Da sich diese Wahrscheinlichkeit im Verlauf einer Fahrt teilweise minütlich verändern kann, gibt es nicht nur Grund für allerlei Push-Nachrichten, man gerät in eine Art Schwebezustand, denn man weiß, der Anschlusszug wird, bis man tatsächlich in ihm sitzt erreicht und nicht erreicht. Das steigert den Blutdruck und erlaubt es den Nutzerinnen sich ganz auf Unbestimmtheit einzulassen und dieser Unbestimmtheit mit um Zustimmung und Bedauern suchenden Seufzen, Ausdruck zu verleihen. Als Benefit gibt es also ein gratis Training in Sachen Ambiguitätskompetenz. Das ist wahrlich visionär und ein hervorragendes Beispiel für eine Designstrategie, die uns auf die Anforderungen der nächsten Gesellschaft[3] vorbereitet.

Nun ist die Bahn wahrlich nicht der einzige Akteur, der Triggerpunkte für Nörgelei setzt, wohl aber einer, der seine gesellschaftliche Aufgabe ernst nimmt. Jeder Leser und jede Leserin mag weitere Akteure entdecken, die dieses Land zusammenhalten und ist man sich einmal der produktiven Seiten des Nörgelns bewusst geworden, kommt man nicht umhin auch die eine oder andere politische Entscheidung in einem anderen Licht zu sehen. Das stimmt dann doch versöhnlich und dies auch noch ganz ohne Meditation und Dankbarkeitstagebuch. Umarmen wir also all die innovativen Maßnahmen, die uns Grund zu Unmut und Nörgelei geben, denn sie bilden den sozialen Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

 

Hafenbrack, Andrew C. … Solal, Isabelle (2022); Mindfulness meditation reduces guilt and prosocial reparation In: Journal of Personality and Social Psychology, Vol.123, Nr.1, American Psychological AssociationUS, American Psychological Association, US.

Mau, Steffen … Westheuser, Linus (2023); Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft Originalausgabe, Sonderdruck, Suhrkamp, Berlin.

Baecker, Dirk (2018); 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, Merve Verlag, Leipzig.

 

 

 

[1] Hafenbrack, Andrew C. … Solal, Isabelle (2022); Mindfulness meditation reduces guilt and prosocial reparation

[2] Mau, Steffen … Westheuser, Linus (2023); Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft

[3] Baecker, Dirk (2018); 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt