„MUSIK IST ETWAS INTUITIVES. EIN BAUCHGEFÜHL, DAS ABER DEN GANZEN KÖRPER BETRIFFT.“
Text: Claudia Ippen
Es ist Hochsommer in Berlin, keine Wolke am Himmel, 30 Grad. Alles läuft ein bisschen langsamer, gemächlicher ab. Gedämpft, als wäre Berlin in eine flirrende Wattedecke gepackt. Ich schaue hoch, in dem Moment biegt Jochen Distelmeyer mit dem Rad um die Ecke. Blauweiß gemustertes Hemd, Jeans und Drahtesel. Ich winke ihm und wir rufen uns ein Hallo zu. Ein guter Start, denke ich, die Stimmung zwischen uns von Anfang an locker und entspannt. Kaum stehen Kaffee, Wasser und Rhabarberschorle auf dem Tisch sind wir auch schon mittendrin und reden über seine neue Platte „Gefühlte Wahrheiten“. Schnell verabschieden wir uns vom oberflächlichen Geplänkel. Wir reden über Gefühle, gefühlte Wahrheiten, Identität und Verbundenheit zu sich selbst. Aber auch über Liebe und Jochens neues Verständnis davon. Und natürlich über Musik. Wie es sich anfühlt, beim Musik machen im Flow zu sein und die Wahrhaftigkeit des Moments einzufangen. Jochen nimmt sich viel Zeit und es macht Spaß mit ihm über die großen Themen des Lebens zu philosophieren. Zugegeben, am Ende schwirrt mir der Kopf – das ist bestimmt die Hitze! Irgendwann schwingt sich Jochen wieder auf sein Rad, winkt und fährt davon. Er ist noch eingeladen auf einem Geburtstag. Aber keine Sorge, hat er mir vergewissert, das Geburtstagskind ist vorgewarnt, dass er zu spät kommt…
Cyte: Gratulation zu deinem neuen Album! Ich habe es in den letzten Wochen rauf und runter gehört und mich in vielem wiederentdeckt – in einzelnen Songs, „Zurück zu mir“ zum Beispiel, aber auch in Textpassagen wie „Sag was ist, oder lass mich gehen“ von dem Song „Im Fieber“ oder „War dir so kalt, dass dir mein Feuer gefiel?“ aus „Hey Dear“. Bei „Zurück zu mir“ geht es um das wieder bei sich Ankommen nach einer Trennung. Es geht darum, wieder die Nähe und Verbundenheit zu sich selbst zu suchen und zu finden. Erreichst du diese Verbundenheit zu dir selbst beim Musik machen und Schreiben?
Jochen Distelmeyer: Dadurch bin ich immer bei mir. Insbesondere durch das Musik machen. Das ist jetzt schon so lange ein zentraler Teil in meinem Leben. Und als etwas, das aus einem selbst kommt, ist es definitiv etwas, bei dem man bei sich ist. Selbst wenn es nicht unbedingt ein Zurück ist. Aber es centered einen mehr.
C: Wird dir manches Gefühl erst beim Musik machen klar? Ich habe von dir ein Zitat gelesen „Musik ist dafür da, uns fühlen zu lassen“. Manchmal beim Schreiben, Tagebuch zum Beispiel, wird mir erst im Nachhinein bewusst, was ich fühle oder gefühlt habe. Passiert das bei dir auch oder ist vorher schon alles klar?
„UNSERE GEFÜHLSWELT IST EIN VITALES ORCHESTER“
JD: Ich kann mich schwer für ein Vorher-Nachher entscheiden. Ich kenne das Nachher auch. Das gibt’s immer wieder. Auch Jahre nachdem man ein Stück geschrieben hat und es dann nochmal live spielt. Das ist dann wie bei einem alten Bekannten, den man wieder trifft. Man denkt dann, krass das habe ich ja schon damals gewusst. Es gibt Lieder, da ist die Musik schon da, bevor die Texte geschrieben sind, ohne dass mir vorher klar ist, worum es inhaltlich geht. Wenn man dann auf die Musik hört, sich darauf einlässt, erkennt man, dass die Musik längst weiß, wovon der Song handelt. Dafür gibt es nur einen Text. Musik ist etwas Intuitives. Ein Bauchgefühl, das aber den ganzen Körper betrifft. Sie lügt nicht und man kann vertrauen auf das, was da erklingt. Auch weil die Gefühle immer ineinander übergehen oder alle miteinander verbunden sind. Unsere Gefühlswelt ist ein vitales Orchester. Das habe ich bei dem Album mit der Zeit verstanden. Aus Verzweiflung kann zum Beispiel schiere Lebensfreude kommen. Aber das Arbeiten an einem Song, auch das Schreiben, hilft dabei, bestimmte Sachen getrennter voneinander betrachten zu können und zu erkennen, wie sich Manches zusammensetzt. Das weiß man aber alles schon vorher. Es wird nur klarer. Man weiß es eigentlich schon die ganze Zeit. Es ist aber noch nicht bewusst. Bei der Zusammensetzung des Albums, der Reihenfolge, wurde mir auch nochmal klarer, wie alles zusammenhängt.
C. Was ist dir bei der Zusammensetzung des Albums klar geworden? Und war die Reihenfolge schon da, unbewusst?
JD: Ich denke ja. Ich hatte häufig den Eindruck bei dem Album, dass Vieles nicht in unserer Macht liegt. Dass es Bestimmungen gibt, Schicksal. Das Gros der Stücke, eigentlich alle, sind schon fertig gewesen, bevor wir 2019 ins Studio gegangen sind. Manche waren sogar schon deutlich älter. „Ich sing für dich“ ist von 2016. Und während des Aufnehmens war es total abgefahren zu merken, wie aktuell alles ist. Die Welt drum herum schien den Stücken nachträglich immer wieder recht zu geben. Alles was da passierte, auch mit Corona und den Maßnahmen, war schon in den Stücken bespielt. Aber das ist eine Erfahrung, die ich schon immer gemacht habe. Ich würde das als Antizipationskraft der Kunst beschreiben. Nämlich, dass in der Verbindung mit etwas Unbewussten Bilder schon da sind, bevor sie in der Welt real passieren.
„ICH SING FÜR DICH WENN DU NICHT WEISST, WO DEINE LEUTE SIND. WENN LINKS UM DICH NUR KRIEG UND KRISE TOBT. UND AUCH AUF DEINE WELT EIN HARTER REGEN FÄLLT. UND DU NICHT WEISST, WO DEINE LIEBE WOHNT“ (ICH SING FÜR DICH)
C: Ist das eine Stimmung, die man aufsaugt?
JD: Alle Menschen haben das. Es resultiert aus einer anderen Verbundenheit mit dem, was wir sind. Eine Verbundenheit unserer Körper mit der Außenwelt, durch das Licht, die Luft oder auch das Wasser, das wir trinken. Wir sind Teil dieses gigantischen Biosystems. Es gibt andere Verbindungsformen neben Ursache-Wirkungs-Ketten und Kausalitäten. Die gibt es auch. Aber ich glaube daran, dass es andere Verbindungen gibt, die sich nicht auf diese Art erklären lassen.
C: Muss man dafür besonders feinfühlig sein?
JD: Ja. Beziehungsweise man muss sich darauf einlassen können. Wir alle haben die Fähigkeit dazu, aber oft fehlt es an Zeit oder Gelegenheit, diese zu entwickeln. In dem Sinne werden Künstler:innen eben auch dafür bezahlt, sich diese Zeit zu nehmen. Zunächst ist es eine ungefragte Arbeit, der man nachgeht. Anders als im Design. Im Design wird man beauftragt, eine bestimmte Sache so zu gestalten, dass sie für ein Produkt funktioniert. Aber in der Musik, im Film, in der Literatur, Malerei etc. beauftragt man sich erstmal selbst, ohne beweisen zu können, dass die Tätigkeit irgendeinen Sinn macht und für irgendwen von Interesse ist.
C: Zumindest am Anfang…
JD: Am Anfang, aber auch immer wieder. Das hat dann auch viel mit Glück und Talent zu tun.
C: Du hast mal gesagt, die Deutschen hätten Angst vor Emotionalität. Warum denkst du ist das so?
JD: Dafür gibt es bestimmt mehrere Faktoren. Ich hatte häufig den Eindruck, dass es über Generationen hinweg laufende und unbewusst vererbte Familiengeschichten gibt. Selbst wenn die Enkelkinder nicht erfahren haben, was die Großeltern durchgemacht haben, so haben sie damit trotzdem noch zu tun. Denn sowohl nach dem Nationalsozialismus in Deutschland als auch nach der DDR ist in vielen Familien wenig darüber gesprochen worden. Von den eigenen Traumata zu erzählen, würde nämlich auch bedeuten, über Schuld zu sprechen. Das wurde vermieden und stattdessen in eine Sphäre der öffentlichen Erinnerungskultur delegiert. Und dort hat das für meine Begriffe auch nur so lippenbekenntnishaft stattgefunden. Mit meiner Musik möchte ich den Bereich der Emotionen öffnen. Und häufig kommt es mir da so vor, als würde ich die Menschen an ihren Schmerz, an ihre Scham erinnern. An Dinge also, die sie nicht empfinden möchten. Das ist nicht nur hierzulande so. Aber als jemand, der hier aufgewachsen ist, kann ich mir das so herleiten. Denn ich kenne wenige Beispiele, wo ich den Eindruck hatte, dass deutsche Musiker:innen in meinem Sinne von sich erzählt haben.
C: Es gibt aber auch Länder, in denen das anders ist. In Spanien haben die Menschen trotz später Aufarbeitung der Franko-Diktatur keine Angst vor Gefühlen.
JD: Es äußert sich da anders. Erst gestern habe ich mit jemanden über das Rechtssystem in Spanien gesprochen. Die Unabhängigkeit der Verfassungsgerichte in Spanien ist auch ein Ergebnis des Franco-Faschismus, der 1975 endete und damit zeitlich erst recht kurz zurück liegt. Das hat die Rechtsprechung möglicherweise noch sensibler sein lassen. Deshalb sind sie dort noch unabhängiger als hier zum Beispiel. Ich denke, dass uns grundsätzlich, unabhängig von den jeweiligen nationalen Geschichten der Gesellschaften, aber das ist jetzt reine Spekulation, im Zuge einer kapitalistischen Verwertungslogik, die Illusion vermittelt wird, klar sagen zu können, wer wir sind und was wir sind.
C: Was uns gerade auf die Füße fällt…
JD: Und es ist schon seit vielen Jahren absehbar, dass dieses System so nicht mehr haltbar ist. Dass das Wachstumsversprechen, welches außerdem Identifikation stiftend ist, so nicht mehr haltbar ist. Mir kommen die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wie ein verängstigter Versuch vor, daran trotzdem festzuhalten. Weil wir sonst gar nicht mehr wissen, wer wir sind. Ein Identitätsproblem schlägt da zu Buche. Und das betrifft mindestens alle Gesellschaften der westlichen Industrienationen. Auch in China sieht man, wie weit ein Land geht, um eine Transformation unbedingt zu vermeiden. Die tun alles, um das Funktionieren ihres komplett wahnhaften, hochtraumatisierten, durchgeknallten Gesellschaftsmodells sicherzustellen.
C: Und damit wären wir beim Thema Täuschung. Wir versuchen, unsere Art zu leben aufrechtzuerhalten, obwohl jedem bewusst ist, dass wir das so nicht länger machen können. Für mich waren Täuschung und Selbstbetrug sowie der Gegenpol dazu, der Wunsch nach Ehrlichkeit, das wiederkehrende Themenkonstrukt deiner Platte. Wie siehst du das?
„WENN DU DEN RAUM BETRITTST WIE EIN PERFEKTER SPIEGEL, ZEIGST DU NUR JEDEM, WAS ER SEHEN WILL“ (HEY DEAR)
JD: Um Wahrhaftigkeit geht es definitiv. Es gibt auch Momente von Enttäuschung auf dem Album. Täuschung selbst würde ich nicht als zentrales Thema auf der Platte sehen. Ich hatte mich im Zuge des Romans, den ich vor mehreren Jahren geschrieben habe, unter anderem mit Balzacs „Verlorene Illusionen“ beschäftigt. Eigentlich war das schon auf „Heavy“ so, wo auf dem Cover diese Blase zerplatzt. Da war mir schon klar, dass in Momenten, in denen Erkenntnis einsetzt, die Projektionen nicht mehr an den Gegenständen oder an den Menschen anhaften. Die gewohnten Illusionen fallen einfach herunter. Aber das hat mich zu etwas anderem geführt. Ich habe heute, durch die Arbeit an meinem Roman, der Coverversion-Platte „Songs from the bottom“ und diesem Album, eine andere Vorstellung von Liebe entwickelt.
C: Inwiefern?
JD: Ich habe die Vorstellung, dass sie überall ist. Wie kann ich das erklären? Ich habe so wundervolle Begegnungen gehabt in den vergangenen Jahren, vielfältiger Art. Die mich zu dem Verständnis geführt haben, dass sie immer ist und überall. Und dass sie fast dieselbe Qualität hat in einem Moment wie in 30 Jahren. Das Ganze der Liebe ist auch in einer kurzen Begegnung schon da und spürbar. Sie kann sich auch in einer 30jährigen Beziehung offenbaren und da sein. Aber dieses Raum-Zeit-Ding ist eigentlich die Illusion, weil wir nicht in der Lage sind, anders unser Leben wahrzunehmen und einzuordnen.
C: Oft werden lange Beziehungen auch mit einem Erfolg gleichgesetzt…
JD: Das erzählen sich dann viele. Es ist aber häufig ein Ausdruck von Verunsicherung, ob es das wirklich ist. Ich freue mich darüber, wenn ich sehe, dass Paare lange zusammen sind. Auch bei allen Widrigkeiten ist es schön zu sehen, wie die Menschen umeinander ringen und sich bemühen. Treue ist eine ganz tolle Sache. Aber Leute, die das dann so vor sich hertragen, da denke ich „ist das jetzt das Einzige, was dir dazu einfällt?“
C: Und vielleicht ist das auch wieder eine Illusion.
JD: Ja, aber auch Angst vor dem Archaischen, der wilden Dimension der Liebe. Auch vor dem Aggressiven.
C: Und dem Beängstigendem?
JD: Ja, zumindest kann es ein Schlüssel sein. Nicht ohne Grund wird bei Parfums eine Bottom Note beigemischt, die nach Verwesung riecht und eigentlich kein schöner Geruch ist. Angst ist das, was uns sofort fokussieren lässt. Parfums haben immer eine unschöne Duftnote, die was mit Tod oder Gefahr zu tun hat. Und dann gibt es andere Schichten, die den Duft aufblühen lassen. Das Gefahrvolle, Riskante, das Abenteuerliche, die Kraft, die sich auch auf aggressive Art äußern kann – alles das gehört mit zu dem Zauber. Und auch die Vertrautheit, die sich einstellt. Es kann auch sein, dass man genauer liebt, wenn man älter wird. Dass man jemand anderen schneller erkennt. Oder dass man zusammengehört. Und wenn es nur für einen Moment ist, dass man dieselbe Seele ist.
C: Vielleicht auch weil man weiß, dass man selbst endlich ist? Und dadurch schneller eine Verbindung spürt?
JD: Das kann ich nicht erklären. Man erkennt sich einfach.
C: Ein sehr schöner Gedanke, dass man sich findet. Daran halte ich fest.
JD: Ja! Das ist tiefer, das ist älter als wir. Man erkennt, wenn man vom selben Stamm ist. Dass man auf derselben Wellenlänge schwingt. What the fuck auch ever. Aber das erkennt man. Und sich nicht von gängigen Konzepten, wie man das normalerweise leben würde, abhalten lässt, dem nachzugehen – denn dafür ist es zu kostbar.
C: Und damit sind wir auch wieder bei der Verbundenheit zu sich selbst?
JD: Ja, natürlich. Weil man sich auch nur mit jemand anderem und mit den anderen zusammen erlebt. Das Zurück zu mir – deswegen fand ich es auch ganz schön, dass es in dem Video so dargestellt ist – muss nicht nur darin bestehen, dass man sich zu sich bekennt und sich trennt. Das kann auch bedeuten, dass man – weil man gemeinsam auf der Hinterbank eines Autos mit jemanden ist – ganz bei sich. Da erlebt man sich, mit dem anderen zusammen. Wir sind eine Seele.
C: Meinst du, dass alles miteinander verbunden ist?
JD: Das sowieso. Das besinge ich auch in „Nur der Mond“ und „nichts das uns trennt, Spur der Ewigkeit im Moment“. Ich war da unter anderem inspiriert von der Ansage eines Stücks von Judee Sill. Judee Sill ist eine Singer-Songwriterin, die ein wundervolles Stück geschrieben hat mit dem Titel „The Kiss“. Bei einem YouTube Clip irgendeiner BBC-Aufzeichnung kündigt sie das Stück an und sagt: „The next song is about the communion of the opposites that we all have. And the kiss is the symbol of the unification.” Und das finde ich sehr weise. Diese Widersprüche oder Gegensätze, die wir haben und die wir sind, sind in dem Moment der sexuellen oder kommunikativen Vereinigung, im Moment des Kusses, spürbar. Dieser spirituelle Zauber von Sexualität, Liebe oder körperlicher Verbundenheit. Krass, was war das denn jetzt? (lacht)
„IRRATIONALITÄT ERGIBT SICH NICHT AUS EINEM ZU VIEL AN EMPFINDUNG. SIE STEUERT IN DER VERARBEITUNG UNSERER SINNESREIZE UNSERE ORIENTIERUNG DER WELT.“
C: Um nochmal zurückzukommen auf „Gefühlte Wahrheiten“ – das ist ein sehr schöner Titel, der mich zum Grübeln gebracht hat, was gefühlte Wahrheiten für mich sind. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Wahrheit immer etwas Persönliches ist und Erlebnisse immer auch von uns eingefärbt werden. Was sind für dich gefühlte Wahrheiten?
JD: Zunächst ist das für mich ein Ausdruck der Dimension von einem Wahrheitsbegriff generell. Wir operieren alle immer ständig mit gefühlten Wahrheiten. Mit Überzeugungen, die wir für wahr halten.
C: Also haben wir beide hier auch gerade zwei gefühlte Wahrheiten?
JD: Ja, oder eine. Das ist das, wo wir uns begegnen. Oder was wir da gemeinsam umkreisen. Wenn man sich den gängigen Wissenschaftsdiskurs der letzten drei Jahre anguckt, auch anhand der Coronapolitik, und der Behauptung von irgendwelchen Seiten, sie würden unemotional und die anderen irrational über bestimmte Dinge reden, dann halte ich das für eine komplette Verkennung des wirklichen Zugangs zur Wahrheit. Denn der ist immer auch von Gefühlen, die wir haben, mit gesteuert oder geprägt. Das Denken des Homo Sapiens, das kognitiv-rationale Vermögen des Menschen, war entscheidend dafür, dass wir kulturelle Schutzräume schaffen und uns an die Spitze stellen konnten. Das hat aber dazu geführt, dass diese Überhöhung oder Verklärung des Kognitiv-Rationalen zu einer Verdrängung des Gefühlsmäßigen geführt hat. Ich denke, dass die Psychoanalyse bei Freud der Versuch war, Emotionalität wieder in den Wissenschaftsdiskurs einzuführen. Aber bis jetzt ist es so, dass die meisten Leute Emotionalität mit Irrationalität gleichsetzen. Das Gegenteil ist der Fall. Irrationalität ergibt sich nicht aus einem zu viel an Empfindung. Sie steuert in der Verarbeitung unserer Sinnesreize unsere Orientierung der Welt. Ein verdrängender oder abwehrender Umgang mit Emotionalität führt zu Irrationalität. In dem Moment, in dem ich versuche, meinen Gefühlen bewusst zu werden, komme ich zu einem viel ausgewogeneren Verhältnis von antizipierend-emotionalem Gehalt und rationaler Einordnung. Aber Irrationalität, und ich denke das sieht man in breiten Teilen der Coronapolitik, ergibt sich aus einer Leugnung und Abwehr vom Gefühl. Gefühl gehört zum Rationalen dazu. Es gibt kein Rational ohne Gefühl. Man kann die beiden nicht getrennt voneinander sehen. Das ist ein Zusammenspiel, ein biochemischer Prozess in uns. Ganz am Anfang, als ich mit Blumfeld die ersten Platten gemacht habe, wurde uns nachgesagt, das seien verkopfte Sachen. What? Das ist ein Body. Das ist alles miteinander verbunden.
C: Gut, dass du das ansprichst. Das hatte ich auch gelesen und mich gefragt: ist das ein Widerspruch, verkopft sein und emotional sein?
JD: Nein. Der Widerspruch wird diskursiv in dieser Art der Fragestellung aufgemacht, um, das habe ich aber auch erst später verstanden, das emotional-öffnende dieser Musik abzuwehren in Form von Anti-Intellektualismus. Man branded irgendetwas als verkopft intellektualistisch, um sich eigentlich mit dem gefühlsmäßigen Gehalt nicht auseinandersetzen zu müssen. Als wir dann „Tausend Tränen tief“ veröffentlicht haben, waren viele Reaktionen, ähnlich wie bei Kindern, sehr infantil. Diese Widersprüche sind real. Aber darauf zu verharren, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat, führt zu einem falschen Verständnis von dem, wie alles zusammenhängt und wie wir zu rationalen Entscheidungen kommen. Bevor wir diese als Widersprüche wahrgenommen haben, waren sie gar keine. Ich glaube, dass sich unsere Stellung auf der Welt verändert, wenn man hierfür ein Bewusstsein entwickelt. Man bekommt eine andere Art von Demut oder Bescheidenheit. Ein anderes Selbstbewusstsein, was sich nicht an Äußerlichkeiten von Zuschreibungen orientieren muss. Weil man sehr genau weiß, wer man ist. Damals, als wir „Ich-Maschine“ gemacht haben, haben wir das noch nicht gewusst, aber intuitiv unschuldig jugendlich geahnt. Mittlerweile gehe ich davon aus, dass dies etwas ist, auf das wir uns ein Leben lang hinbewegen, auf unsere Identität oder das, was wir sind. Wir sind immer in a way bei uns, aber es ist nicht etwas, was uns substanziell vorher determiniert, sondern etwas worauf wir uns zeitlebens hinbewegen.
C: Das heißt, wir haben am Ende – wann auch immer das ist – unsere Identität erreicht? Meinst du, dass man immer mehr zu sich selbst findet im Laufe der Zeit?
JD: Ja, ich hoffe das. Bei mir erlebe ich das so. Ich weiß ja nicht, was danach ist, wenn es dann vorbei ist. Da gibt es ja auch verschiedene Konzepte. Dass wir aufgrund von Verwesung wieder eingespeist werden in diesen endlosen Kreislauf, ob als Regenwurm oder Blume.
C: Ich finde es in dem Kontext spannend, dass die Identität sich immer auch wandelt. Man findet immer mehr zu sich selbst, aber es gibt immer wieder Ereignisse, die einen aufs Neue prägen.
JD: Ja, genau. Das meine ich. Möglicherweise verliert man sich auch, oder hat das Gefühl sich zu verlieren, und dann kehrt man zu sich zurück oder glaubt, zu sich zurückzukehren. Es gibt keinen Weg ohne Umweg.
„MIR FÄLLT KEIN STÜCK EIN, FÜR DAS WIR NICHT DEN ERSTEN TAKE GENOMMEN HÄTTEN.“
C: Lass uns nochmal zurück zu deinem Album und den Songs kommen. Wobei hattest du am meisten Spaß im Entstehungsprozess? Bei welchem Song hast du dich am meisten Du gefühlt und warum?
JD: Bei allen. Da alle Songs auf eine Art Facetten von mir sind. Grundsätzlich waren die Aufnahmeprozesse, mit der Band im Studio zu stehen, wundervoll. Ich hatte die Direktive, dass wir das Album First Take-mäßig aufnehmen. Dass, was gespielt wird, ist es dann auch. Auf all meinen Stücken erkenne ich diesen gemeinschaftlichen Spielprozess wieder. Wir konnten den Moment einfangen. Viele von den Stücken sind aus einem Take entstanden. Schlagzeug, Bass, Gitarre, der Gesang – alles ein Take. Das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht, das liebe ich total. Das ist bei allen Stücken so.
C: Machst du das immer so? Oder nur bei dieser Platte?
JD: Das war immer so ein Ideal von mir. Nicht zuletzt seit meiner Coverversion-Platte, die ich mit Swen Meyer, dem Produzenten auch von diesem Album, gemacht habe, wusste ich, dass er immer alles aufnimmt. Auch wenn man so hineinrutscht ins Spiel. Und trotzdem klingt es nicht gejammed, sondern wie ein Take. Ich hoffe, dass ich das (klopft auf den Tisch) für die weiteren Produktionen mitnehmen kann. Denn genauso möchte ich Musik machen.
C. Weil es auch eine gewisse Spontanität zulässt?
JD: Nicht nur Spontanität. Die Wahrhaftigkeit des Moments ist das Entscheidende. Jede:r Musiker:in kennt das. Es gibt Takes, die sind gut, weil sich das Gefühl darin hörbar äußert. Dann gibt es wiederum Takes, die sind viel besser gespielt, aber sie wirken nicht lebendig. Das ist egal. Relevant ist der Moment, wenn alle den Song gefühlt haben. Und dass man das aufnimmt und bannen kann, ist ein schwieriger Prozess.
C: Klar, wie timed man so was?
JD: Es gibt einen klassischen Dirigenten Sergiu Celibidache, der deswegen nie viel aufgenommen hat. Es gibt kaum Tonaufnahmen von ihm und seinem Orchester. Er hat immer gesagt, man könne Konzertsituationen nicht aufnehmen. Der Typ ist eine absolute Legende und gilt als einer der ganz großen klassischen Dirigenten. Ich kann nachvollziehen, wie er dazu gekommen ist. In der Popmusik mit kürzeren Stücken geht das manchmal. Man nimmt auf, wenn ES im Raum ist. Ich glaube jeder Musiker und jede Musikerin kennt das Gefühl, wenn man Geister einfängt und man das dann auch auf der Aufnahme noch hört.
C: Kommt das dann eher selten vor?
JD: Meine Hoffnung ist, dass man sich darauf einübt. Und ich bin überglücklich, dass es bei meiner Platte funktioniert hat. Mir fällt kein Stück ein, für das wir nicht den ersten Take genommen hätten. Und auch entschieden haben, das sind die Stücke, die auf dem Album sein müssen.
C: Wie lange dauert so ein Entscheidungsprozess?
JD: Ich habe für gewöhnlich vorher schon festgelegt, welche Stücke ich in einem Werkzusammenhang rausbringen will. Diesmal war es ein bisschen unklar wegen der englischsprachigen Stücke. Als wir dann in den Mix gingen, stellte sich heraus, dass die drei Songs einfach so stimmig zu den anderen Stücken waren, dass wir sie unbedingt mit drauf nehmen mussten. Sie gehörten mit zu dem Album, zum Vibe, und insgesamt zu der Erzählung, welche Station jemand durchläuft, um zurück zu sich zu kommen.
C: Für mich haben die drei englischen Lieder beim Durchhören des Albums eine Art Ruhepause dargestellt, eine Art Entspannung, insbesondere der letzte Song „Roads of Regret“.
JD: Das finde ich auch. Ich wusste, mit welchen Stücken die Platte anfangen sollte. Die Reihenfolge dann festzulegen, war eine schnelle Entscheidung.
C: Ihr wart im Flow?
JD: Komplett. Wahnsinn. Das war wirklich irre.
C: Bist du das immer?
JD: Ich habe mich vor Jahren dazu entschieden, auf den Flow zu vertrauen – auf meinen eigenen musikalischen Flow, aber auch auf den meiner Mitmusiker. Während draußen durch die gesellschaftspolitischen Maßnahmen jede Form von Flow unterbrochen wurde, als sei das Trennende, das unbewusst eigentlich Gewollte dieser Zeit. Aber mir kam sie eh wie die Verlängerung einer Gravitationswelle des Bösen vor, die schon Jahre vorher begonnen hatte. Nicht erst durch Leute wie Orbán, Bolsonaro oder Trump. Als wenn es ansteckend wäre, dass Chauvinisten und Möchtegern-Patriarchen an die Macht kommen.
C: Eine Zuspitzung?
JD: Ja, eigentlich aus einer Verzweiflung geboren. Klar ist, dass es so nicht weitergehen kann. Wir befinden uns in einem Transformationsprozess hin zu etwas Gutem. Und einige reaktionäre politische Figuren versuchen verzweifelt, an dem Alten festzuhalten. Das sind alles Jungs, die nicht loslassen können. Das sind auch Trennungsgeschichten. Das erleben wir gerade mit der Krim und dem Ukrainekrieg. Da sind auch Jungs zugange, die nicht loslassen können.
C: Was gefällt dir am Musik machen am meisten? Ist es das in den Flow kommen? Oder ist es die Phase davor?
JD: Ich finde alles gut daran. Wie der Körper in Schwingung gerät. Ich finde mich gut, wenn ich das mache. Auch das Singen. Es macht einfach krass Bock. Das Live spielen, das Schwitzen, der Lärm, das Leise.
C: Wann ist das Leise?
JD: Musst du mal bei den Konzerten vorbeikommen, wenn wir spielen. Kennst du Joao Gilberto? Eine der wichtigen Figuren des Bossa Nova in Brasilien. Sein Stil ist sehr leise, da er jahrelange bei seiner Schwester, die Krankenschwester war, gewohnt hat, und nachts zum Spielen immer ins Badezimmer gegangen ist. Um seine Schwester nicht aufzuwecken, musste er leise spielen. Seine Spielweise ist präzise, elegant, aber sehr leise. Sie ist wahnsinnig elaboriert und hat eine andere Autorität, die den Raum anders erfüllt. Es gibt einige Künstler, die ich gut finde, die das drauf haben. Ich kann das gar nicht weiter erklären. Musst du mal vorbeikommen!
Wir danken Jochen Distelmeyer außerordentlich für dieses Interview.