AN DAS WILDE GLAUBEN von Nastassja Martin

Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

Matthes & Seitz Berlin, 2021

“ …es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich kein Tod ist.”

Es geschieht eigentlich nicht, es ist bisher nicht geschehen, dass mich ein Buch auf der ersten Seite erwischt. Hier war es die erste Seite.

Selten ist es so, dass wenn die erste Seite irgendwie ok ist, die Autorin, der Autor es weiter durchhält, es weiter schafft, mich gleich bei sich zu halten. Eher braucht es viele Seiten, bis ich ganz einsteige. Hier waren auch die Seiten nach der ersten Seite so, dass ich – es wummert in der Brust – nicht anders konnte, als mitzugehen. Zunächst in die Erzählung nach dem “Vorkommnis”, die äußere Heilung.

Dann in den Wald, in die Stille, in den Zauber, in die Ur-Naturkraft, in eine mir – unerklärlich – vollkommen fremde Welt. Ich erahne nur, dass es eine Welt von Urvölkern in unwirtlichen und naturgewaltigen Gegenden gibt. Man sieht Dokumentationen, Bildbände, liest Bücher, manche fiktional. Nichts hat mir eine wirkliche Ahnung solcher Welten so nahe gebracht, wie diese Erzählung. Sie hat einen Sog. Sie macht mir Angst, aber ich kann nicht von ihr ablassen. Sie fasziniert mich. Martins Sprache, wie sie sich preisgibt, wie sie das Reale mit dem Fiktiven vereint. Ihr Wissen um die Menschen, die Landschaft, die Tiere, den Schnee, den Wind. Ihre Wissenschaft*, die ihr Leben ist und die sie trotz ihres Erlebnisses mit dem Bären wieder zurückkehren lässt, an den Ort, der sie fast zerstört, sie fast umgebracht hat. Aber eben nur fast. Der Bär hat von ihr abgelassen. (*Anthropologie, Spezialistin für arktische Völker; Hier die Ewenen, Ureinwohner auf Kamtschatka)

“…den Kuss des Bären” … “an meinen krachenden Kiefer, meinen krachenden Schädel, an die Dunkelheit, die in seinem Maul herrscht” … “an meinen Bären, der es sich plötzlich auf unerklärliche Weise anders überlegt, seine Zähne werden nicht die Werkzeuge meines Todes sein” …

“Er wollte Dich nicht töten, er wollte Dich zeichnen. Du bist jetzt miedka(*), die zwischen den Welten lebt. (*Ewenisches Wort, das Personen beschreibt, die die Begegnung mit einem Bären überlebt haben und “vom Bären gezeichnet” sind. Es beschreibt die Vorstellung, dass die Person, die diesen Namen trägt, von da an halb Mensch, halb Bär ist.)

Vermutlich ist es die Leidenschaft, die mich fasziniert. Ihre Selbstsicherheit, mit der Martin ihr Leben mit ihrem Beruf verbindet, oder wo vermutlich ein sogenannter Beruf gar nicht existiert. Sie lebt ihr Leben und alles was sie tut, geht nur um das Erleben, wie Menschen, an einem weit entfernten Ort, ihr Leben leben und wie sehr sich dieses von dem der Autorin unterscheidet. Oder unterschied, denn letztlich ist sie Teil dessen geworden, was sie wissenschaftlich erforscht.

Menschen, die nicht wie sie selbst aufgewachsen sind. Menschen, die um ihr Recht auf ihr Leben, wie sie es seit jeher über Generationen und gemäß ihrer Traditionen erfahren haben, kämpfen müssen. Weil man sie “zivilisieren” will. Man kann es auch domestizieren nennen. Wie ein wildes Tier.

“Mama, ich muss wieder zur matucha(*) werden, die sich in ihren Bau verkriecht, um zu überwintern und neue Lebenskräfte zu sammeln. Und es gibt noch Geheimnisse, die ich nicht zu Ende ergründet habe. Ich habe das Bedürfnis zu denen zurückzukehren, die sich mit Bärenproblemen auskennen.”

(*Ewenisch: Bärin)

 

In der Realität wurde sie nicht von einem Bären angegriffen. Der Bär ist das Symbol. Es geht um den Respekt vor den Menschen, die ihr Leben anders leben als man es als “normal” bezeichnet. Es ist die Aufforderung, sich das Wesen des vermeintlich Fremden zu eigen zu machen, eine Verbindung einzugehen, um zu verstehen und um gewähren zu lassen. Bestenfalls, um sich etwas abzugucken, etwas zu übernehmen, was uns in unserer “Zivilisation” abhanden gekommen ist. Das Füreinander, das Spüren der Kräfte, die uns umgeben. Die Kräfte, die wir nicht mehr wahrnehmen. Lieber schlucken wir noch ein paar Vitamine, kaufen uns die xte Klamotte, stürzen uns an einem Gummiband in die Tiefe, um uns zu spüren.

“Wir müssen der Entfremdung entkommen, die unsere Zivilisation erzeugt. Aber Drogen, Alkohol, Melancholie und schließlich Wahnsinn und/oder Tod sind keine Lösung, man muss etwas anderes finden. Das ist es, was ich in den Wäldern des Nordens gesucht, was ich nur teilweise gefunden habe, was ich weiter verfolge.”

Und hier kommen mir die Tränen.

Es ist Februar 2022. AN DAS WILDE GLAUBEN ist mein Buch

des Jahres.

Words: Henrike Heick