Wenn man ein Heft macht, muss man unter anderem immer wieder Themen aufspüren, Autoren finden, sich Photostrecken ausdenken und letztendlich kreativ sein.
Kreativität ist die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder originell und dabei nützlich oder brauchbar ist. Darüber hinaus gibt es verschiedene Ansätze, was Kreativität im Einzelnen auszeichnet und wie sie entsteht.
Das Wort Kreativität bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch vor allem die Eigenschaft eines Menschen, schöpferisch oder gestalterisch tätig zu sein. Falsch ist jedoch die verbreitete Vorstellung, dass Kreativität nur mit Berufen oder Tätigkeiten aus den Bereichen der bildenden Kunst und der darstellenden Kunst verbunden sei (art bias). ((Quelle: Wikipedia))
Mir ist das Themen aufspüren, kreativ sein lange schwer gefallen. Bevor ich angefangen habe Cyte zu machen, habe ich es geliebt, Modezeitschriften durchzublättern und war häufig fassungslos begeistert davon, wie toll die Geschichten erdacht und inszeniert waren. Es schien mir unbegreiflich, wie man auf solche Dinge, solche Geschichten kommen konnte. Wer so etwas macht, musste unfassbar kreativ sein. Nie würde ich so etwas erschaffen können!
Es wäre anmaßend zu behaupten ich wäre inzwischen gut darin, aber ich habe gelernt, wie man eine Form der Kreativität erzeugt. Dabei ist für mich der erste und wichtigste Schritt, mutig zu sein. Ich habe gelernt absurde oder lächerliche Gedanken zu äußern und Dinge vorzuschlagen, für die ich Gefahr laufe, angespuckt zu werden. Um sein Gegenüber einzufangen, Begeisterung zu schüren, das Kribbeln im Nacken zu erzeugen, funktionieren für mich drei Dinge: sich auf Menschen einlassen zu können, zu erkennen, wie sie ticken, eine gewisse Überzeugungskraft in der Darstellung seiner Idee und ein Talent, Geschichten zu erzählen. So kann es mir gelingen, dass mein Einfall in Betracht gezogen wird. So kann es gelingen, etwas Neues oder Ungewöhnliches entstehen zu lassen. Mein Motto seit einiger Zeit: Sprich Deine bescheuertsten und schrägsten Gedanken aus!
„Wir geben den Gesichtern ein extremes Make-up, wir malen sie grün und blau an, so dass die Modelle wie Aliens aussehen!“ Manchmal hilft es, wenn man das dann noch halbwegs logisch begründen kann. Das ist dann vielleicht noch nicht wahnsinnig kreativ, aber schon ein Schritt in Richtung „anders“. Im „Aliens“-Fall geht es um die Geschichte eines Umweltaktivisten, der nachhaltige Mode designt (Cyte #9). Die grünen Gesichter, das Alien-artige stehen für das Unvermögen der Menschheit, den Planeten so zu behandeln, dass er überlebt.
Der Pariser Modedesigner Lutz Huelle sagt in unserem Interview, dass es leicht ist eine extreme Kollektion zu machen, aber wahnsinnig schwierig ist extreme Dinge zu tun, die Sinn machen und so wirken, dass man sich fragt: „Warum nicht?!“
Es scheint also Risiken zu geben beim kreativen Prozess. Man muss sich auf sein eigenes Geschmacksempfinden verlassen können und wollen.
Mir ist erst vor einigen Jahren aufgefallen, dass die meisten tollen Ergebnisse, immer durch ein Team entstanden sind, in dem die jeweils besten Köpfe ihre Ideen zusammengeworfen haben. Ich weiß, das ist so ein Standard-Ding und eigentlich zu platt, um wahr zu sein. Dazu gehört auch, dass das Ergebnis fast immer nur so gut, wie das schwächste Glied in der Kette ist. Es geht einfach nur mit guten Leuten, mit den jeweils Besten ihres Faches und es geht nur mit einem Team, das gleichzeitig ausgeglichen und homogen sortiert ist.
Eine andere Erfahrung, die ich gemacht habe, um Kreativität entstehen zu lassen sind eine gute Tiefenrecherche und penible Vorarbeit. Zeitreisen machen, alte Magazine und Bücher zu durchforsten, Videos anzuschauen, Musik zu hören und alles was einem gefällt, einfach merken. Man muss da keine Angst vorm Kopieren haben. Es wird immer anders, weil man einfach immer andere Voraussetzungen und eine andere Einstellung, als die Vorlage mitbringt. Ich rede jetzt nicht von normalen Alltagsproduktionen, egal in welchem Bereich, ob Modephotographie, Werbung, Design oder Mode. Ich rede von solchen Dingen, die einen berühren, einem im Kopf bleiben und die etwas bewegen. Unvergesslich für mich Steven Meisels Strecke Makeover Madness für die italienische VOGUE, 2005.
Ich weiß, solche Sachen sind momentan selten gefragt, weil alle am Ende nur verkaufen wollen und sich die Verkaufsargumente heute verändert haben. Aber wenn Begehrlichkeit nur mit niederen Instinkten, Dauer-Beballerung und Inhaltsleere erreicht werden und Poesie, Emotionen und Leidenschaft überflüssig geworden sind, werden wir alle seelisch ausbluten!
Es ist ein Zeichen der Zeit, dass es reicht, wenn nur eine Person mit genügend Followern ein Produkt in die Kamera hält und es allein dadurch verkauft. Ich möchte aber wieder verführt, berührt und bezaubert werden, sonst bekommt Ihr mein Geld nicht!
Ich glaube weiterhin an die Kraft der Kreativität. Alles fängt mit einer guten Idee an. Und je besser die ist, desto besser das Resultat – in jeder Hinsicht.
Auch eine eigene Haltung wäre nicht schlecht, wenn man sich von anderen abheben möchte – man kann es nicht allen Recht machen! Aber nur wenn man sich treu bleibt und keine Angst hat zu den eigenen Überzeugungen zu stehen, können auch andere an einen glauben – vielleicht nicht alle, aber wahrscheinlich die für einen selbst Richtigen.
Momentan komme ich mir vor wie in „Momo“ dem Roman von Michael Ende, in dem die grauen Männer von der „Zeitsparkasse“ uns permanent dazu auffordern, Zeit zu sparen und alles effektiver zu machen. Bezogen auf Kreativität fühlt es sich an, als wenn alle permanent versuchen an Geld und Ideen zu sparen, um uns ihre Dinge zu verkaufen. Im Roman werden alle Menschen, die von den grauen Männern besucht werden, genau so grau, so aschfahl, so blutleer wie die Männer selbst. Während sie versuchen, Zeit zu sparen, vergessen sie, im Jetzt zu leben, das Schöne zu erkennen und das Leben zu genießen.
Ja, man kann alles geistloser und direkter und langweiliger verkaufen, aber brauchen wir nicht vor allem mehr Schönheit? Auch dieses atemlose Schnell, Schnell das immer mehr die Mode bestimmt, funktioniert für mich nicht mehr. Kaum ist die eine Saison vorbei, kommt schon die nächste Zwischenkollektion, kommt die Kollaboration mit XY. Bloß nicht zur Ruhe kommen, bloß nicht etwas mal in Ruhe wirken lassen, sich drauf einlassen. Der nächste Trend ist schon an der übernächsten Ecke. Die Männer von der „Zeitsparkasse“ geben keine Ruhe, sie kaufen Dir Deine Zeit ab, Du sollst sie bei ihnen sparen, damit Du später mehr hast – aber dieses später gibt es nicht, niemals.
Auch wenn es vielleicht noch ein bisschen dauert bis sich der Wind wieder dreht, werde ich nicht aufhören an die Schönheit und begeisternde Arbeit zu glauben und sie zu bewundern. Daher lasst uns in Ruhe an kreativen Lösungen und Ideen arbeiten. In der Mode, im Leben und für diese Welt.
Text: Stephan Ziehen